Meine Meinung

Gesellschaftliche Problem...chen. 

Hier kommt der Teil mit Verarbeiten und Aufregen zum Tragen. 

 

 

 

Die Union braucht einen Reality Check

Wie Friedrich Merz und seine Partei sich immer weiter von der Realität der Bürgerinnen und Bürger entfernen und nun auch ihre ewig treu ergebene Zielgruppe, die Rentner, vor den Kopf stoßen.

Nur ein paar Wochen, nachdem der frisch gebackene Bundeskanzler Friedrich Merz seine kolossale Aussage: „Wir müssen wieder mehr arbeiten“ von einem für ihn in perfekter Höhe eingestelltes Pult geschmettert hatte, kam sein Parteikollege und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann mit einer noch dreisteren Aussage in Caren Miosgas Talkshow um die Ecke.

Am 25. Mai hatte Miosga sowohl Linnemann als auch Christiane Benner von der IG Metall und Moritz Schularick vom Kieler Institut für Weltwirtschaft in ihre Sendung eingeladen, um über die hoheitliche Ansage des Kanzlers zu sprechen. Nachdem Schularick und Misoga aktuelle Überstundenzahlen aus Deutschland vorlegen konnten, wollte Miosga daraufhin von Linnemann wissen: „Wer arbeitet denn jetzt zu wenig?“
Linnemann, der von seinem Beratungsteam offensichtlich wenig bis schlecht vorbereitet worden war, stotterte kurz bevor er antwortete: „Die Rentner zum Beispiel.“
Allein die Tatsache, dass seine Mitdiskutanten nicht unmittelbar in schallendes Gelächter ausbrachen zeigt, wie fassungslos diese Antwort alle Zuhörer machte.

Fairerweise muss man dieses Zitat einordnen, denn Linnemann fuhr fort: „Wir wollen sie nicht zwingen, zu arbeiten.“ Stattdessen plant die Union einen wie Linnemann es nannte „Anreiz zu längerem Arbeiten, auch über die Regelaltersgrenze hinaus“. So will die Bundesregierung eine sogenannte „Aktivrente“ einführen. Rentner, die arbeiten, sollen mit dieser rund 2000 Euro monatlich nicht versteuern müssen.

Das Problem sei damit nicht gelöst, warf die IG-Metall-Chefin ein. So könnten die meisten Menschen, die körperlich anstrengende Berufe wie Krankenpfleger oder Dachdecker haben, im Renteneintrittsalter meist gar nicht mehr arbeiten. Zugleich gibt es viele Frauen, die in Teilzeit arbeiten und gerne mehr arbeiten würden, allerdings aufgrund fehlender Kinderbetreuungsangebote dies häufig nicht können. „Da hat die Bundesregierung an der falschen Stelle angesetzt“, erklärte Benner.

Diese tatsächlichen Umstände scheint die Regierung allerdings nicht bedacht oder sogar bewusst ausgeblendet zu haben. Es scheint, dass vor allem die hochrangigen Vertreter der Union so weit entfernt von der Realität „normaler“ Menschen sind, dass sie Entscheidungen treffen, die an den Interessen der meisten Wähler vorbei gehen.
 

Völlig losgelöst von der Realität

Sowohl Merz als auch Linnemann wissen weder, wer wie viele Stunden in welchen Berufen arbeitet, noch scheinen sie in Betracht zu ziehen, dass vor allem junge Menschen aktuell branchenübergreifend keine Stellen finden, weil es einfach keine gibt. Was die Rentner angeht (rund 22 Mio.), so sind wenige davon willens, geschweige denn überhaupt in der Lage, zu arbeiten. Die Pflegeheime sind beinahe alle überfüllt. Viele ältere Menschen sind bettlägerig oder auf den Rollstuhl angewiesen. Des Weiteren leben allein 1,8 Millionen Menschen im Rentenalter mit Demenz, was sie automatisch für den Jobmarkt disqualifiziert. Weitere körperliche Einschränkungen werden im hohen Alter auch immer mehr zur Regel.

Abgesehen davon erzürnte vor allem Linnemanns Aussage die Gemüter, weil es scheint, als wolle die Union bald jeden Autonormalverbraucher zur maximalen Leistung antreiben (oder sogar zwingen), anstatt beispielsweise dort Geld einzusammeln, wo es in rauen Mengen liegt: bei reichen Mitbürgern.

Für diese Befürchtung spricht unter anderem der Vorstoß der Union, den Acht-Stunden-Tag abschaffen zu wollen und die geplanten verschärften Sanktionen gegen Bürgergeldempfänger, die in der Vorstellung der offiziell christlichen Partei alle bloß „zu faul zum Arbeiten“ sind.


Systematische Realitätsferne

Dass Volkswirt Linnemann und Anwalt Merz, die beide aus der oberen Mittelschicht stammen, keine Ausnahme in ihrer Abgehobenheit bilden, bewies auch Parteikollege und Kanzleramtsminister Thorsten Frei nur wenige Tage später bei „Maischberger“. In der Diskussion über Linnemanns Rentner-Aussage mit der ehemaligen Grünen Vorsitzenden Ricarda Lang, behauptete der 51-Jährige (ebenfalls Anwalt), dass jeder, der Vollzeit arbeite, so viel Geld hätte, dass er davon leben könne.

Lang widersprach ihm direkt und führte richtigerweise die rund 830.000 Aufstocker, die neben ihrer Arbeit noch soziale Unterstützung bekommen müssen. Diese Menschen arbeiten in der Regel Vollzeit, verdienen aber unter Bürgeld Niveau. Damit wäre wieder mal eine Aussage eines Unionspolitikers widerlegt und wiederum liegt ihr derselbe Irrtum wie bei den beiden vorigen Beispielen von Linnemann und Merz zugrunde: Unwissenheit durch Abgehobenheit.

Es ist bei Weitem nicht das erste Mal, dass ein hochrangiger CDUler durch ebendiese Abgehobenheit auffällt. Erst 2018 rief der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in Reaktion auf den Fachkräftemangel in der Pflege die Beschäftigten zu Mehrarbeit auf. 
"Wenn von einer Million Pflegekräften 100.000 nur drei, vier Stunden mehr pro Woche arbeiten würden, wäre schon viel gewonnen", sagte er damals, vollkommen unwissend darüber, dass die meisten Pflegekräfte bereits mehr arbeiten, als sie gesetzlich dürften, weil der Personalengpass schon auf Haaresbreite steht.


Ausbeutung als Regierungsstil 

Dieses Beispiel zeigt auch, dass die Union seit Jahren lieber die Peitsche schwingt, anstatt die Reallöhne gesetzlich anzuheben oder die Integration von Fachkräften aus dem Ausland zu erleichtern, im Gegenteil. Während drei der ranghöchsten Politiker der CDU in aller Öffentlichkeit ihre Realitätsferne präsentieren, legt die stärkste Partei der neuen Regierungskoalition bereits Verschärfungen für Migration fest und will unter anderem die schnellere Einbürgerung wieder abschaffen.

Lieber sollen diejenigen, die vorhanden sind, weiterhin ein wackliges System auf zu wenigen Schultern balancieren, zur Not eben bis zum Burnout, anstatt vom Status quo abzuweichen. Seien wir ehrlich, als die ersten Umfragewerte der Bundestagswahl veröffentlicht wurden, wussten wir, was auf uns zukommt: ein Revival der Achtziger! Ein verzweifeltes Kleben alter Besserverdiener an einer längst vergangenen Zeit und deren Unfähigkeit und Unwillen, diesen Umstand zu akzeptieren.

Die neue Regierung ist noch nicht einmal einen Monat lang im Amt und schon jetzt wissen wir, dass die Bahn sich nicht verbessern, der Fachkräftemangel nicht geringer und die Mieten nicht sinken werden.

Friedrich Merz und seine Union waren nur drei Jahre mal nicht an der Regierung und sind schon mit Feuereifer dabei, alles Neue, was die erste Dreierkoalition in Deutschlands Geschichte anstoßen wollte, wieder in den Boden zu stampfen. Persönlich finde ich, dass sich keine andere Partei so gut mit folgendem Spruch zusammenfassen lässt, wie die CDU:

„Dat hammer immer su jemacht, dat bleibt so!“.


Auftrieb für die AfD

Die Konsequenzen scheinen der Union (und auch der SPD) entweder nicht klar oder schlicht egal zu sein. Doch die Wahrheit ist, dass sie mit ihrem Verhalten der AfD Tür und Tor zur nächsten Regierung öffnen. Immerhin hat Merz schon vor der Wahl bewiesen, dass er es mit der „Brandmauer“ zur AfD nicht wirklich ernst meinte und hat die in Teilen rechtsextreme Partei mithilfe einer gemeinsamen Abstimmung als demokratisch legitimiert.

Des Weiteren ist die AfD bereits zweitstärkste Kraft in den Umfragen. Wenn die CDU nun auch noch ihre ewig treue Zielgruppe, die Rentner, vertreibt, kann man sich ausmalen, wo diese bei der nächsten Wahl ihr vielleicht letztes, dafür aber sehr frustriertes Kreuz machen werden.

Na dann, allen einen fröhlichen Untergang!
 

"We didn't start the fire" - und wer löscht den Brand?

Vor ein paar Wochen war ich auf dem Weg nach Düsseldorf. Während ich am Bahnhof auf den Zug wartete, hörte ich den Song „We Didn't Start the Fire“ von Billy Joel in meiner Playlist. Joel zählt in dem Lied historische Meilensteine und Persönlichkeiten auf, von Harry Truman über Elvis Presley und dem Afghanistan Krieg bis hin zum Cola Krieg zwischen Coca Cola und Pepsi. Diese Meilensteine gipfeln im Refrain „We didn't start the fire“ (Wir haben das Feuer nicht entfacht), „It was always burning since the world's been turning“ (Seit die Erde sich dreht, hat es schon gebrannt).

Billy Joel, der den Song selbst geschrieben hat, erklärte in einem Interview, dass die Inspiration zum Text ein Gespräch mit einem Teenager gewesen sei, der meinte, Joels Generation hätte es einfacher gehabt, da es zu seiner Zeit noch keinen Krieg im Irak gegeben habe. Joel fiel auf, dass jede Generation ihre Probleme zu bekämpfen hat und den Irrglauben hat, die vorige Generation habe es leichter gehabt. Daraufhin entschloss er sich, „We Didn't Start the Fire“ zu schreiben, um diesem Eindruck entgegenzuwirken.

Wer hatte das Feuerzeug in der Hand?

An jenem Tag am Bahnhof stellte auch ich fest, wie aktuell der Song noch immer ist, obwohl Joel ihn bereits 1989 veröffentlichte. Gerade mit Blick auf die aktuelle Weltlage sowie den Wahlkampf in Deutschland kam ich nicht umhin, eine gewisse Ironie festzustellen.

Gerade die vergangenen drei Jahren bestimmten Schuldzuweisungen die deutsche Parteienlandschaft. An so ziemlich allem war die neue Regierung Schuld: an der Inflation, an den steigenden Preisen, am Hochwasser, an der Schuldenbremse, an Attentaten von Migranten, sogar an der Corona-Pandemie. Die erste Dreier-Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik wiederum warf der Opposition vor, ihnen genau die Suppe eingebrockt zu haben, die sie nun auslöffeln müsse. Schließlich hatte die Union 16 Jahre lang die Kanzlerin gestellt.

Niemand der Zuständigen wollte die Feuer gelegt haben, die es nun zu löschen gilt. Seit der Finanzminister auch noch anfing, in der eigenen Regierung neues Feuer zu legen, sollte es den Wählerinnen und Wählern dämmern, dass es schon lange nicht mehr darum geht, schnellstmöglich zu löschen.

Du hast angefangen!“ - „Nein, du!“
 
Während einige Medien immer wieder von „Beziehungsstreit“ oder „Uneinigkeiten“ im Plenarsaal berichteten, erinnerten mich die Aussagen von Scholz, Merz und Lindner eher an die von Kindergartenkindern.

Was unsere politischen Vertreter in den letzten Jahren abgeliefert haben, ist schlicht peinlich. Sowohl in der Regierung als auch in der Opposition. Alle sind unfähig zu reflektieren und unwillens, Verantwortung zu übernehmen. Und vor allem: an keinen ernsthaften Lösungsansätzen interessiert.

Parallel mussten wir uns immer wieder Zwischenrufe von Seiten der AfD und der CSU anhören. Allen voran Markus Söder schien primär an Selbstdarstellung interessiert zu sein, anstatt Lösungen wie beispielsweise für das Hochwasser in seinem Bundesland zu finden oder einen gewissen Hubert Aiwanger dazu zu kriegen, sich bei der jüdischen Gemeinde in der Flugblattaffäre zumindest mal zu entschuldigen.

Dasselbe galt und gilt für Friedrich Merz. Der wollte die AfD zunächst „halbieren“. Inzwischen verdrängt er das Wort „Brandmauer“ so erfolgreich wie Olaf Scholz die Cum-Ex-Geschäfte, nur um die Abgrenzung zu den Rechten am 24. Januar 2025 einfach komplett fallen zu lassen. Die inzwischen als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei hat ihre Umfragwerte im Übrigen in den letzten Jahren verdoppelt!

Merz will um jeden Preis einmal in seinem Leben Kanzler spielen. Wer ihn dabei unterstützt, ist ihm neuerdings egal. So egal wie die Tatsache, dass weder die Wähler, noch seine neue Koalition tatsächlich hinter ihm stehen. Trotzdem bleibt abzuwarten, ob und wie sich die neue GroKo etabliert.
 

Though we didn't light it but we tried to fight it“

Die Wahrheit über Politik ist, dass es immer etwas zu tun gibt. Der Job ist nie „erledigt“, weil die Welt sich weiterdreht, weil machthungrige Männer Kriege entfachen und Menschen deshalb fliehen. Doch Deutschland hat die letzten 20 Jahre warm und wohlig in seinem geliebten Status quo verharrt, weil wir so tun konnten, als hätten wir ausgesorgt, als sei die Arbeit getan. Wir glaubten, alles könne so weiterlaufen, wie es war. Nun merken wir, dass dieses Modell nicht funktioniert. Ein russischer Möchtegern-Welteroberer auf der einen Seite und ein unzurechnungsfähiger Amerikaner auf der anderen Seite, sowie der Klimawandel von allen Seiten haben uns das schmerzhaft bewusst gemacht und uns aus dem Status quo-Traum unsanft geweckt.

Wenn ich etwas über mich und meine Landsleute weiß, dann, dass wir Veränderung nicht mögen. Deutsche sind in der Mehrheit Controllfreaks und absolute Gewohnheitstiere. Diese Mentalität war es, die Angela Merkel 16 Jahre lang die Kanzlerschaft sicherte. Wir wussten, was wir von ihr zu erwarten hatten. Sie war berechenbar, zumindest bis 2015. Mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“, genauer gesagt, mit der Aufnahme der Flüchtenden aus Syrien brach Angela Merkel ihr unausgesprochenes Versprechen an die Bevölkerung, stets berechenbar zu bleiben. Und prompt fielen ihre Beliebtheitswerte. Viele, die ihr zuvor maximal mit Gleichgültigkeit gegenüber standen, begannen, sie offen zu hassen. Ähnlich verhielt es sich mit ihren abrupten Kehrtwenden in der Energiepolitik: „Der Ausstieg vom Ausstieg aus der Atomkraft“.

Und dieser Hass ist nicht nur Ausdruck der Geringschätzung von „Fremden“, sondern viel mehr eine Geringschätzung von allem, was sich unserer Kontrolle entzieht. Die AfD verspricht einfache Lösungen, sortiert die Welt in schwarz und weiß: „Wenn wir die bösen Migranten alle ausweisen, sind wir sicher“, „Der Klimawandel ist nur ein Vorwand, um uns alle zu bevormunden, weil die da oben uns keinen Spaß gönnen“.

Wie viel einfacher wäre es, wenn wir die „Bösen“ an ihren spitzen Hörnern und die „Guten“ an ihren weißen Flügeln erkennen würden? Doch diese Zuordnung existiert nur in Märchen und selbst dort fallen die Protagonisten zunächst meist auf einen offensichtlichen Trick herein.

But when we are gone it will still burn on and on“

Billy Joel für seinen Teil hat schon 1989 erkannt, dass das Feuer lange vor uns da war und noch lange nach uns weiter brennen wird. Die Menschen wiederholen ihre eigene Geschichte. Überall scheint sich eine neue Welle des Faschismus auszubreiten. Was wir seit beinahe 100 Jahren besiegt glaubten, erhebt sich nun wieder aus dem Sarg.

Doch auch für diese neue alte Bedrohung gilt: Sie wird nicht von Dauer sein.

Und genau deshalb sollten wir alle, ob Politiker oder nicht, mit dem Blick auf die nachfolgenden Generationen nun handeln und uns fragen, welches Leben wir führen wollen. Mir zumindest reicht es nicht aus, dem Feuer beim Brennen zuzuschauen. Ich werde meine Lebenszeit dafür nutzen, es vielleicht eines Tages zu löschen. Wenn nicht für mich, dann für alle, die nach mir kommen.

Gesundheitsversorgung am Ende

Am Freitag war ich nach langer Zeit mal wieder im Kino. Ich sah mir den Film „Heldin“ von Regisseurin Petra Volpe an. Die Handlung ist so simpel, wie selbsterklärend. Die Zuschauer folgen einer Schweizer Krankenschwester durch ihre Schicht in einem Krankenhaus bzw. einem Spital. Ihre Schicht beginnt schon mit der Ansage, dass sie heute unterbesetzt sind. Die Ärzte, die längst nach den Patienten sehen wollten, gehen selbst in OPs und Notfällen unter. Alle Patienten brauchen etwas und die Krankenschwester Floria tut ihr Mögliches, um allen gerecht zu werden, schafft es aber natürlich nicht. Der Film endet mit dem Hinweis, dass bis 2029 in der Schweiz schätzungsweise 30.000 Pflegende in der Gesundheitsversorgung fehlen werden, in Deutschland könnten es im selben Zeitraum bis zu 200.000 sein. Und laut Statistischem Bundesamt könnten bis 2049 sogar bis zu 690.000 Pflegekräfte in Deutschland fehlen. Wer jetzt denkt, es geht ihn oder sie nichts an, liegt falsch.

Die Wahrheit ist, dass wir alle irgendwann krank werden und alle irgendwann Hilfe brauchen werden. Wir sehen ein strukturelles Problem, das sich in den vergangenen 20 Jahren extrem verschlimmert hat.

Zum einen liegt das laut pflegenot-deutschland.de am demographischen Wandel. Es werden immer mehr Patientinnen und Patienten, die versorgt werden müssen und es kommen nicht genügend junge Leute in den Beruf nach. Um den Personalmangel aufzufangen, müssen die aktuell 1,7 Millionen Beschäftigten häufig Mehrarbeit leisten. Die Folgen sind hohe Belastung, Zeitdruck und Überstunden. Hinzu kommt der körperlich und mental anstrengende Schichtdienst auch an Wochenenden und Feiertagen.

Des Weiteren fordern Pflegende seit Jahren eine gerechtere Entlohnung. Im Schnitt verdienen Pflegende etwa 3.200 brutto. In Kombination mit der Inflation sowie den steigenden Mieten verschärfen sich somit die Arbeitsbedingungen. Viele Pflegende fühlen sich ungerecht behandelt.

Was vom Applaus übrig bleibt

Während der Pandemie 2020 wurden Pflegende plötzlich zu den verdeckten Helden der Gesellschaft ernannt. Unzählige Menschen klatschen für sie von ihren Balkonen. Bereits ein Jahr später erschien das Buch der Pflegerin Nina Böhmer mit dem vielsagenden Titel: „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken“. Auf rund 200 Seiten erklärte Böhmer, dass ihr Berufsstand keinen Applaus brauche, sondern dringend bessere Arbeitsbedingungen. Mit diesen Forderungen war sie nicht die erste und auch nicht die letzte Pflegefachkraft, die die Öffentlichkeit suchte, um ihrem Frust über das „Verheizen“ ihres Berufes Luft zu machen. Auch der Pfleger Ricardo Lange erhielt einen Scheinwerfer durch die Corona-Pandemie und sprach in den vergangenen Jahren sogar mit den Gesundheitsministern Jens Spahn und Karl Lauterbach über gezielte politische Maßnahmen, die es aus seiner Sicht benötigte, um seinen Berufsstand endlich zu stabilisieren. Während Karl Lauterbach in seiner leicht verkürzten Amtszeit rund 90 neue Gesetze auf den Weg brachte, die die Gesundheitsversorgung in Deutschland nachhaltig verbessern sollen, merken die Pflegekräfte noch nichts davon. Stattdessen brechen viele die Ausbildung ab oder werfen den Beruf im Schnitt nach drei Jahren hin.
 

Rechter Kurs schadet dem Beruf

Durch den demographischen Wandel wird auch der Pflegeberuf immer mehr zu einem der Berufe, die auf Fachkräfte aus dem Ausland zurückgreifen müssen. Mit einem Erstarken der rechten Parteien verschärft sich die Situation allerdings weiter. Erst vor einigen Monaten wurden fünf Pflegekräfte ausgewiesen, die alle für den Erhalt eines Altersheimes benötigt wurden. Denn schließlich kann der Staat nur jene Menschen ausweisen, die auch auffindbar sind. Und das sind nun mal jene, die einen Beruf und eine feste Wohnungsadresse haben. Die Folge: Blindes Ausweisen um jeden Preis trifft genau diejenigen, die in Deutschland dringend gebraucht werden!

Während also die AfD, die CDU und inzwischen auch SPD immer mehr auf Abschiebungen setzen, steht das deutsche Gesundheitssystem kurz vor dem Kollaps.

Auch als Patient bemerkt man inzwischen den Personalmangel. Facharzttermine sind gerade in Ballungsgebieten immer schwieriger zu bekommen, Hausärzte gehen in Rente, finden keine Nachfolger und die Notaufnahme ist gerade am Wochenende brechend voll.

Wenn man es dann ins Krankenhaus geschafft hat, wartet man nicht selten Stunden darauf, dass die Pflegenden einen Moment Zeit haben.

Zusätzlich droht auch eine Verknappung an Rettungskräften. Immer öfter werden Aussagen öffentlich, die von Gewalt gegen Einsatzkräfte vor Ort berichten. Das macht den Beruf nicht nur anstrengend, sondern gefährlich. Bei der aktuellen Entwicklung könnten in Deutschland bald amerikanische Verhältnisse drohen. Nicht selten warten Menschen in manchen Gegenden der USA über Stunden auf einen Rettungswagen. Die Folge: viele Menschen streben, da sie nicht schnell genug Hilfe erhalten.
 

Die neue Regierung sollte also, sobald sie gewählt und vereidigt wurde, das Problem dringend angehen, indem sie Anreize für den Pfegeberuf durch bessere Bezahlung und besser Arbeitsbedingungen schafft. So sprach der amtierende Gesundheitsminister Karl Lauterbach im Februar 2025 von den zahlreichen Möglichkeiten der Digitalisierung und der Künstilichen Intelligenz, die die Pflege, sofern richtig umgesetzt, entlasten könnten. 

Die FDP wirkt kopflos und nachtragend

Nachdem die FDP allem Anschein nach die Ampel-Koalition im Herbst letzten Jahres gesprengt hat, mit dem Ziel, in den vorgezogenen Neuwahlen Schwarz-Gelb herbeizuführen, wurde sie nun von Friedrich Merz abgesägt. Eine realistische Reaktion von Merz, immerhin steht die FDP seit Wochen bei gerade einmal 4 Prozent in den Wählerumfragen. Ein Einzug in den Bundestag scheint damit auch zwei Wochen vor der Wahl unwahrscheinlich.

Selbst das duckmäuserische Anbidern beim neuen Asylrechtskurs der CDU half den Umfragewerten nicht, im Gegenteil. Die FDP scheint jegliches Rückgrat bzw. jegliche Identität für den bloßen Machterhalt eingetauscht zu haben. Führung? - Fehlanzeige. Christian Lindner plappert Friedrich Merz nach dem Mund. Bis jetzt.
 

Am 10. Februar gab die FDP bekannt, die anstehende Abstimmung zur beschlossenen Reform des § 218 StGB zu blockieren. Mit diesem kindischen Verhalten zeigt die FDP einmal mehr, das sie weder für politische noch für Regierungsverantwortung gemacht ist.

Wir sehen hier eine Partei, die mit dem Rücken zur Wand steht, aber auch nicht mehr viel zu verlieren hat. Als Konsequenz und möglicherweise aus verletztem Stolz heraus hält sie nun die Demokratie als Geisel, genauer gesagt, Menschenrechte.

Das Verbot der „Werbung“, womit eigentlich Information gemeint ist, zu Schwangerschaftsabbrüchen ist ein Relikt aus Vorzeiten, das längst gestrichen hätte werden müssen, bisher aber leider keine Priorität hatte. Schließlich ist die Spitzenpolitik noch immer größtenteils männlich. Ebenso wie die FDP.

Und diese demonstriert nun, wie männliches verletztes Ego wichtigen politischen Entscheidungen im Weg steht. Hier geht es nicht um Fortschritt oder Technologieoffenheit. Hier geht es um die persönlichen Befindlichkeiten von kleinen Jungs in Maßanzügen.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat es vergangenen Freitag auf einem Townhall Meeting in Köln gut zusammengefasst: „Mit der FDP zusammenzuarbeiten, war wie ein Fußballspiel zu spielen, bei dem ein Drittel der Mannschaft für das gegnerische Team spielte“.

Wer eine Regierung von innen heraus sabotiert, in der Hoffnung, seine eigene Macht auszubauen, hat in einer Demokratie nichts verloren!

Ironisch ist jedoch, dass die FDP mit jeder ihrer Entscheidungen ihre Umfragewerte selbst weiter in Richtung Minusbereich drängt. Am Ende des Tages ist es doch immer am schönsten, wenn der gelbe Sack sich selbst raus trägt.

 

Quellen: 

https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/abtreibung-reform-100.html

https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/fdp-djir-sarai-ampelaus-dday-100.html

"But you're so nice"

Deutschland muss sich entscheiden -zwischen Willkommenskultur und Abgrenzung

Vor einigen Monaten sprach mich eine junge Mutter auf Englisch an der U-Bahn Haltestelle Köln-Deutz an. Sie war mit zwei Kindern unterwegs, eines davon im Kinderwagen und suchte nach einem Weg hinauf zu den Gleisen der KVB. Ich zeigte ihr den Aufzug, der ausnahmsweise mal funktionierte, und sie winkte mich zu sich in die Kabine herein. Sie fragte mich schließlich, woher ich kam. Zunächst antwortete ich, wie es bei dieser Frage immer tue: mit meinem Wohnort – Köln. Nein, nein, wo ich geboren sei. Diese Frage höre ich größtenteils, nachdem mein Gegenüber meinen Nachnamen gelesen hat. Daher ist diese Frage nicht neu für mich. „I was born here. I’m German.“ Neu für mich war, um nicht zu sagen, erschreckend, die Reaktion der jungen, dunkelhäutigen Frau. Sie sah mich erstaunt an und erwiderte: „Really? But you’re so nice!“

Ich musste schlucken und war über ihre Aussage so erschrocken, dass ich erst einmal gar nicht antworten konnte. Hatte sie so schlechte Erfahrungen mit meinen Mitbürgern gemacht? Hatten sie diese so unfreundlich behandelt bisher? Aber all das konnte ich sie nicht mehr fragen, denn wir kamen oben an den Gleisen an, der Fahrstuhl öffnete sich, sie bedankte sich bei mir und ging weiter. Ich bleib zurück mit so vielen Fragen. Wie lange war sie schon hier? Wer hatte sie so schlecht behandelt, dass sie zu dem Schluss gekommen war, deutsche Menschen seien nicht nett? Und war/ist das wirklich das Bild, das wir als Deutsche nach außen kommunizieren wollen?

Wenn man sich den Rechtsruck in den letzten Jahren so anschaut, könnte man das zumindest meinen. Die AfD wurde in Thüringen und Sachsen mit mehr als 30 Prozent der Stimmen stärkste Kraft in den Landtagen. In Brandenburg wurde sie zweitstärkste Kraft. Seit 2017 sitzt sie im Bundestag und ist auch in jedem Landtag vertreten. Nicht einmal 100 Jahre nach Adolf Hitlers Putsch scheint sich die deutsche Geschichte zu wiederholen. Rechte Polemik ist wieder chic und wer die Aussagen von Björn Höcke oder Alice Weidel kritisiert, ist plötzlich selbst das Problem, weil das keine freie Meinungsäußerung zulasse. Die Rechten haben es geschafft, den öffentlichen Diskurs mit ihrer Hetze zu vergiften. Und der Rest von uns? Zwar gingen Anfang des Jahres tausende Menschen für die Demokratie und gegen die AfD auf die Straße – doch was ist davon geblieben? Die CDU, die sich selbst als „bürgerliche Mitte“ bezeichnet, schreibt längst bei der AfD ab, ebenso wie der SPD-Kanzler, der vor einigen Monaten das Spiegel-Cover mit dem Zitat: „Wir müssen endlich konsequent abschieben“ zierte.

Dass eine solche Entwicklung bei Menschen aus anderen Ländern schlecht ankommt, kann an dieser Stelle wirklich niemanden überraschen. Aber Deutschland ist in den letzten Jahren schlicht zweigleisig gefahren: auf der einen Seite schreien Politik und Wirtschaft nach ausländischen Arbeitskräften, an denen es hierzulande fehlt. Auf der anderen Seite fürchten sich große Teile der Gesellschaft nach wie vor vor allem, was sie nicht kennen und die Politik tut aktuell nichts, damit sich diese Angst legt oder zumindest mildert. Die Wahrheit ist die, dass die Welt sich weiterdreht und Deutschland zu lange auf seinem geliebten Status Quo beharrte. Die Digitalisierung ebenso wie den Umstieg auf erneuerbare Energien haben wir verschlafen. Es bleibt ein Wettlauf -, oder eher ein Nachjagen der Zeit, als Deutschland mal Exportweltmeister war und sich darauf eine Menge einbildete. Zeitgleich werben AfD und Union damit, mehr Menschen abzuschieben, denn damit würden sich die Umstände für alle Deutschen wieder bessern. Vom berühmten deutschen Fleiß ist nur das fleißige Schuldsuchen bei anderen geblieben. Vorzugsweise bei denen, die „hier nicht hingehören“. Das lässt völlig außer Acht, dass das „Wirtschaftswunder Deutschland“ ohne Gastarbeiter unmöglich gewesen wäre. Daran hat sich nichts verändert. Aber die deutsche Gesellschaft scheint ebenso wie der Kanzler und der Oppositionsführer an selektiver Amnesie zu leiden. Während Merz sich nicht mehr an das Wort „Brandmauer“ erinnern kann, scheint es bei der Bevölkerung die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg zu sein, die sie aus ihrem kollektiven Gedächtnis verdrängt hat.

Auch die Tatsache, dass die angeblich „wehrhafte Demokratie“ schon so lange in ihrer Schockstarre verharrt wie eine Eidechse bei Minustemperaturen, lässt auf wenig Besserung hoffen. Die sogenannten etablierten Parteien sind zu beschäftigt mit sich selbst, als dass sich auch nur eine von ihnen mit einer erfolgreichen Strategie gegen Rechts befassen könnte. Sogar längst abgeschriebene Politiker bekommen wieder eine Bühne, allen voran Jens Spahn, der, in Hoffnung auf den nächsten Ministerposten im Kabinett Merz in dasselbe Horn tutet, wie sein Vorgesetzter. Die angebliche Mitte ist so weit nach rechts gerückt, dass eine Koalition mit der AfD auf Bundes- oder Landesebene nicht mehr allzu fern scheint. Das Einzige, was deutsche Migrantenkinder wie mich an dieser Stelle etwas tröstet - Deutschland ist dieses Mal nicht für einen weiteren Weltkrieg ausgestattet.

Psychische Erkrankungen und toxische Männlichkeit

Letztes Jahr sah ich einen Ted Talk auf Youtube von einer Frau, deren Ehemann sich das Leben genommen hatte. In diesem Ted Talk erzählte sie, dass sie absolut nichts gemerkt hatte bis es zu spät war. Sein Tod kam nicht nur völlig überraschend für sie sondern zu allem Überfluss auch noch an ihrem Geburtstag.

Nach seinem Tod fand sie in seinem Arbeitszimmer einen ganzen Stapel Tagebücher, in denen er seine Depression und die daraus resultierende Verzweiflung ausführlich festgehalten hatte. Lange fragte sie sich, weshalb er sich ihr nie anvertraut hatte. Doch dann erfuhr sie, dass er seine Erkrankung nicht nur vor ihr, sondern auch vor seinen Eltern und seinen Freunden geheim gehalten hatte. Er hatte es nicht gewagt, sich irgendwem anzuvertrauen. 
Für ihren Vortrag hatte sie Bilder von ihm und ihren gemeinsamen Kindern mitgebracht, die sie den Zuschauern zeigte. Der Mann auf den Bildern sieht abgekämpft und erschöpft aus. Dazu sagte sie: „Heute frage ich mich, wie ich das damals nicht sehen konnte. Ich meine, er sieht schrecklich aus.“

Sie beendete ihren Vortrag mit dem Schluss, dass es nicht die Depressionen alleine waren, die ihren Mann soweit getrieben hatten, sondern auch die Angst, sich jemandem anzuvertrauen. Diese Angst war so groß, dass sie ihn davon abhielt, sich Hilfe zu suchen.

Und genau darum geht es.

Dass psychische Erkrankungen in der Mitte der Gesellschaft noch immer nicht so ganz angekommen sind, ist kein Geheimnis. Es gibt immer noch genug Menschen, die mit Aussagen wie: „Reiß dich mal zusammen“, „Anderen geht’s auch schlecht“ und „Das hat's früher nicht gegeben“ reagieren. Erst an Weihnachten habe ich mit meiner Mutter über dieses Problem gesprochen. Ich fragte sie, wie man denn in ihrer Jugend mit dem Thema Krankheit (psychisch oder physisch) umgegangen sei. Ihre Antwort: „Darüber wurde nicht gesprochen.“ 
Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viele Omis und Opis heute in den Wartezimmern sitzen und sich einander ihre Leiden klagen. Aber gerade in der älteren Generation wird psychische Erkrankung eben häufig noch mit „bekloppt“ gleichgesetzt.

Und nun stellt euch vor, ihr seid Ehemann und Vater. Eure Kinder sind gesund, ihr habt einen guten Job, ein schönes Haus und es müsste doch alles wunderbar sein. Doch das ist es nicht. Ihr seid traurig, müde und habt das Gefühl, auf Sparflamme zu laufen, egal, wie lange ihr am Wochenende ausschlaft. Nichts bereitet euch mehr Freude, aber ihr wollt nicht, dass eure Familie sich unnötig Sorgen macht, also setzt ihr ein Lächeln auf und kommt mit eurer ersten Dauerausrede: „Ich bin nur müde, hab schlecht geschlafen.“

Fakt ist, es nehmen sich mehr Männer als Frauen das Leben. Im Jahr 2020 begingen in Deutschland laut Statistischem Bundesamt insgesamt 9.206 Menschen Suizid. 75% davon waren Männer.

Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie sind jährlich mehr als 17 Millionen erwachsene Menschen von psychischen Erkrankungen betroffen. Gerade mal 18% davon suchen sich professionelle Hilfe. Bei diesen ist laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung ein Ungleichgewicht in der Inanspruchnahme von Behandlung bei Männern (6,5%) und bei Frauen (11,9%) festzustellen.

Woran liegt es aber, dass Männer, die offensichtlich genauso psychische Erkrankungen erleiden wie Frauen sich seltener Hilfe suchen und deutlich häufiger Suizid begehen?

Meiner Meinung nach gibt es vielschichtige Gründe, weshalb jemand sich entscheidet, sein oder ihr Leben zu beenden. Aber an dieser Stelle möchte ich mal Dinge wie Diagnose Krebs oder Verlust eines geliebten Menschen außen vor lassen und mich auf die Menschen konzentrieren, die an einer psychischen Erkrankung wie beispielsweise Depression oder Angstzuständen erkranken und aufgrund dessen Suizid begehen.


Und dazu fange ich bei mir an.

Ich war 2017 depressiv. Wahrscheinlich war ich es schon davor, aber wirklich ausgebrochen ist die Erkrankung erst in diesem Jahr. Ich hatte gerade mein Jurastudium geschmissen und keine Ahnung, was ich stattdessen mit meinem Leben anfangen sollte.

Ich fühlte mich, als hätte ich versagt, wäre auf ganzer Linie gescheitert. Mein Leben war ein Scherbenhaufen und ich hatte keinerlei Perspektiven, zumindest fühlte sich das damals so für mich an. Hinzu kam, dass ich keine Ahnung hatte, wer ich überhaupt war. Ich wusste, wer ich in der Öffentlichkeit vorgab, zu sein, aber mit mir selbst hatte das damals nicht viel zu tun. Die Rolle, die ich für alle spielte, hatte ich jahrelang eingeübt und beherrschte sie so perfekt, dass ich eine Zeit lang glaubte, diese Rolle sei mein wahres Ich. Aber durch die frühzeitige Beendigung meines Studiums schien ein Riss durch diese Rolle gegangen zu sein und plötzlich konnte ich die Scharade nicht mehr aufrecht erhalten.

Innerhalb von drei Monaten hatte ich zwei Nervenzusammenbrüche. Immer allein in meinem damals winzigen Studentenzimmer. Ich bekam einen Weinkrampf, schrie und wollte mir die Haut vom Körper reißen, weil ich das Gefühl hatte, sie sei zu eng. Mein Kopf dröhnte und meine eigene Stimme sagte mir wieder und wieder, was für eine Versagerin ich war. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange dieser Zustand anhielt. Ich weiß nur, dass ich anschließend so erschöpft war, dass ich in mein Bett kroch und einschlief. Der Schlaf, wenn ich ihn denn fand, war in dieser Zeit die einzige Wohltat, denn währenddessen war es ruhig in meinem Kopf.

Nach dem ersten Zusammenbruch redete ich mir noch ein, es alleine schaffen zu können. Ich erzählte natürlich niemandem davon. Vor mir selbst leugnete ich, ein Problem zu haben. Es war eben gerade eine schwierige Phase, eine vorübergehende Situation. Das würde schon wieder besser werden. Es musste nur endlich Sommer werden, ich musste eben noch mehr joggen gehen, mich noch gesünder ernähren, mir ein neues Hobby suchen,... die Liste wurde endlos.

Nach meinem zweiten Zusammenbruch erkannte ich dann aber, dass ich jetzt nur noch zwei Möglichkeiten hatte: entweder, ich würde mir Hilfe suchen, oder mich in den nächsten Wochen vor einen Zug werfen.

Letzteres war nicht übertrieben. Zu dieser Zeit hatte ich gerade abends immer wieder Episoden, in denen ich völlig emotional taub durch die Gegend lief, ohne zu wissen, wo ich hin sollte. Während dieser Episoden beobachtete ich mich selbst wie ein Zuschauer dabei, wie ich an einer dicht befahrenen Straße immer näher an die Kante des Bürgersteigs ging und mir dachte: „Noch ein Schritt nach links, dann ist es vorbei. Dann ist es endlich vorbei.“ Ich fühlte dabei weder Angst, noch Bedauern. Ich fühlte absolut nichts.

Mein Leben erschien mir in dieser Zeit vollkommen sinnlos. Ich war nichts weiter als eine Versagerin, die es ohnehin niemals zu etwas bringen würde und die Tatsache, dass ich aus dieser Spirale nicht alleine herauskam, zog mich zunächst nochmals tiefer in sie hinein. Mir selbst einzugestehen, dass ich Hilfe brauchte, war ein riesiger Schritt für mich. Es war, als würde ich zugeben, am Leben selbst gescheitert zu sein. Und dafür schämte ich mich.

Ich komme aus einer Handwerkerfamilie, wo Emotionen lange (mit wenigen Ausnahmen) etwas waren, dass von Schwäche zeugte. Besonders mein Großvater war jemand, dem man mit komplexen Gefühlen wie Scham oder Heimweh nicht zu kommen brauchte. Der einzige Grund für ihn, zu weinen, war auf Beerdigungen.

Selbst heute, wo ich mich als „geheilt“ bezeichne, rede ich noch immer nicht offen darüber, aus Angst, in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden. Die Stigmatisierung von psychisch Erkrankten ist nach wie vor präsent und gerade Betroffene scheinen sie so verinnerlicht zu haben, dass sie lieber weiter leiden, als zuzugeben, ein Problem zu haben. Man möchte eben vermeiden, auf der Arbeit blöden Sprüchen ausgesetzt zu sein oder noch schlimmer, nicht mehr für voll genommen zu werden, weil der Chef plötzlich denkt, man sei aufgrund der Erkrankung nicht belastbar und müsse geschont werden.

Dass dies für Männern mitunter noch schwerer ist als für Frauen, erkläre ich mir mit dem Begriff der toxischen Männlichkeit. Der Begriff ist nicht eindeutig definiert, doch im Groben lässt er sich so zusammenfassen:

Toxische Männlichkeit steht für die Gender-Norm oder das archetypische Klischee, dass Männer ihre Emotionen unterdrücken, dominant und aggressiv sein müssen. Der klassische Höhlenmensch, der jeden Tag pumpen geht, seine Freundin an den Haaren ins Bett zieht, Fleisch, Bier und Autos liebt und sich selbst als Alphatier sieht. Dieser Archetyp scheint auch heute leider noch das Vorbild vieler Männer zu sein. Gerade wenn es um Emotionen geht, so scheinen diese unabdingbar feminin behaftet, was automatisch mit Schwäche assoziiert wird.

Erinnert ihr euch, wie wir Jungs in der Grundschule geärgert haben?

„Du bist voll das Mädchen!“

Schon damals haben wir unbewusst das Feminine mit Schwäche assoziiert und umgekehrt das Maskuline mit Stärke. Und starke, wahre Männer weinen doch nicht.

Daher finde ich es nicht verwunderlich, dass wenige Männer, die an psychischen Erkrankungen leiden, sich zunächst selbst eingestehen, dass sie Hilfe brauchen und sich dann auch aktiv Hilfe suchen. Die Gesellschaft vermittelt einem Mann das Bild, dass er sein Leben im Griff haben muss, denn wenn er das nicht hinkriegt, ist er schließlich kein richtiger Mann, sondern ein Weichei, eine Memme, ein Schwächling.

Dass dieses gesellschaftliche Bild veraltet und höchst schädlich ist, zeigt das Beispiel des Ehemanns aus dem Ted Talk. Dieser Mann war verzweifelt, traute sich jedoch nicht, mit irgendjemandem darüber zu reden, aus Angst, man könne ihn für schwach halten.

Ganz abgesehen davon, dass der Mensch keine Maschine ist und eben krank oder auch einfach mal erschöpft sein kann, hat Social Media meiner Meinung nach, gerade von meiner Generation abwärts nicht gerade geholfen. Was teilen wir auf Instagram und Facebook? - Schöne Momente, Selfies, die vielleicht ganz zufällig mal gelungen oder nach 50 Versuchen und drei Heulkrämpfen vor dem Badezimmerspiegel entstanden sind. Der Punkt ist, dass das meiste davon gestellt ist. Doch die meisten Leute betrachten ihre Lieblingsinfluencer eben nur durch diese Linse und schließen daraus, dass diese Menschen das perfekte Leben führen. Newsflash: Das perfekte Leben existiert nicht!

Also was tun?

Zunächst muss die Stigmatisierung psychisch Erkrankter aufhören. Am besten lässt sich das meiner Meinung nach durch Aufklärung herbeiführen. Viele haben noch immer keine Ahnung, dass Depressionen und Angstzustände ebenso eine Erkrankung sind wie Asthma oder Laktoseintoleranz. Man sucht es sich nicht aus. Und der Geist kann ebenso unter Schmerzen leiden wie der Körper.

Bei toxischer Männlichkeit liegt ein strukturelles, jahrhundertealtes Konzept vor, das nur schwerlich und langsam aufgebrochen werden kann. Denn es wird durch Unterhaltungsmedien, eigene Vorlieben und Klischees sowohl von Frauen als auch von Männern am Leben gehalten. Vielleicht sollten wir ganz damit aufhören, gesellschaftliche Anforderungen an jemanden aufgrund seines oder ihres Geschlechts zu stellen. Wie im Text über sexuelle Gewalt bereits erwähnt, könnte das durch das Aufbrechen traditioneller Rollenbilder erfolgen. Wieso soll mein Sohn nicht mit Barbies spielen? Wieso sollte meine Tochter nicht KFZ-Mechatronikerin werden?

 

Zum Schluss ein paar Tipps an alle, die mit psychischen Problemen kämpfen:

  1. Ihr seid nicht allein! Ihr seid nicht die ersten und auch nicht die letzten. Also sprecht zumindest mit jemandem, dem ihr vertraut. Vielleicht braucht ihr auch nur mal eine Pause von allem.
  2. Psychische Erkrankungen haben nichts mit Schwäche zu tun. Es ist eine Krankheit, die wirklich jeden treffen kann.
  3. Sofort professionelle Hilfe zu finden, kann unter Umständen dauern. Also versucht, so früh wie möglich, euch darum zu kümmern. Ich bin damals zu meinem Hausarzt gegangen, habe mir Depressionen diagnostizieren lassen und habe dort auch eine Liste mit Psychotherapeutischen Praxen bekommen, die ich abtelefonieren konnte. Das Gute: ich fand einen Therapeuten, der mit den Krankenkassen zusammen arbeitet. Ich musste die Behandlung also nicht selber zahlen.
  4. Thema zahlen: Ja, Psychotherapie ist teuer, aber es ist kein Luxus. Wenn ihr leidet, habt ihr Anspruch auf Hilfe. Zwar arbeiten nicht alle Therapeuten mit Krankenkassen zusammen, aber es gibt sie. Und für Skeptiker, die sich fragen, wie ein oder eine Wildfremde denn euer Leben besser beurteilen können soll als ihr: manchmal ist man in seinen eigenen Denkmustern so verworren, dass ein neutraler Blick von außen völlig neue Perspektiven eröffnen kann. Zudem bewertet ein Therapeut/eine Therapeutin eure Lage nicht. Sie sind Profis. Sie stellen also fest und zeigen Lösungsvorschläge auf.
  5. Das Ganze müsst ihr ja auch niemandem erzählen. Die Therapeuten und Ärzte unterliegen ohnehin der Schweigepflicht, also braucht ihr nicht zu fürchten, es könnte ohne eure Zustimmung rauskommen.
  6. Was habt ihr zu verlieren?
  7. Jeder, wirklich jeder Mensch kann psychisch erkranken. Männer, wie Frauen. Ob klein, ob groß, ob dick, ob dünn, ob reich, ob arm.


 


 


Quellen:

https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/suizide.html

https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/17452fbcf559a53a36e71334cde8d18e8d6793fa/20210727_Factsheet_Kennzahlen.pdf

Eine lächerliche Strafe

Es passiert überall, auf der ganzen Welt. Es passiert in jedem Alter, in jedem Land, in jeder Schicht. Eine Straftat, die wahrscheinlich so alt ist wie Mord, nur viel schlimmer, da das Opfer damit weiterleben muss. 

Die Rede ist von Vergewaltigung bzw. sexuellem Missbrauch.

Vor drei Wochen wurde der ehemalige Nationalfußballspieler Christoph Metzelder zu 10 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, für den Besitz und die Verbreitung kinderpornographischer Inhalte. Laut Strafgesetzbuch ist jemand, der nachweislich Kinderpornos besitzt bzw. verbreitet, mit einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu fünf Jahren zu verurteilen (§ 184b StGB).

Doch Metzelder ist nur das aktuelle Beispiel. Auch die Strafe für Vergewaltigung ist schlicht zu milde. § 177 StGB sieht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vor (für Mord kann man bis zu 20 Jahre bekommen). Hinzu kommt, dass Vergewaltigung verjähren kann, was die Chancen auf eine Aufarbeitung von Fällen, die mehr als 20 Jahre zurückliegen, noch weiter schmälert. Zu dem ist der Paragraph sehr missverständlich formuliert:

Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

Und das ist nur Absatz 1 von 9. Der Paragraph ist ewig lang, schaut ihn euch gerne mal selbst an (Link unten bei den Quellen).

Zunächst mal die Formulierung: „gegen den erkennbaren Willen einer Person“. Erkennbar für wen? Das Wort erkennbar ist sehr frei auslegbar. Daher kam auch ursprünglich die Debatte „Nein heißt Nein“. Leider werden sehr viele Täter behaupten, eben nicht erkannt zu haben, dass das Opfer es nicht wollte. Dinge wie Schockstarre werden zum Beispiel nicht bedacht, geschweige denn mal gesetzlich festgeschrieben. Ganz schwierig wird es, wenn Alkohol im Spiel war. Ich persönlich habe oft erlebt, dass Alkohol gerne als Entschuldigung für respektloses Verhalten benutzt wird. Das Schlimme daran ist, dass wir es hinnehmen. Niemand sollte überhaupt, ob betrunken oder nicht die Frechheit besitzen, jemand anderen gegen ihren oder seinen Willen anzufassen (ja, auch Männern kann es passieren). Dann zum Strafmaß: maximal fünf Jahre. Wenn jemand also 18 ist, wenn er die Tat begeht, ist er mit 23 wieder raus. Im Vergleich zum Mord, bei dem die Höchststrafe „lebenslang“ (max. 20 Jahre, Bewährung nach frühestens 15) ist, wirkt dieses Maß lächerlich.

Überall auf der Welt

Ist euch aufgefallen, wie viele junge Darstellerinnen und Darsteller allein aus Hollywood in den letzten Jahren (vor und nach dem Hype um #metoo) aus ihrem Schweigen heraus traten, um ihre Geschichte zu erzählen?1 Die schiere Menge sollte uns erschrecken. Aber sie tut es nicht, da wir uns als (Welt) Gesellschaft längst daran gewöhnt haben. Es ist erstaunlich, wie schnell Menschen abstumpfen können, besonders in Dingen, gegen die man niemals abstumpfen sollte.

Jede 5. Frau in Deutschland hat laut Statistiken schon einmal sexuelle Gewalt oder Bedrängnis erlebt. Die Zahlen, die dem BKA vorliegen, beziehen sich natürlich nur auf die Fälle, die auch zur Anzeige gebracht wurden. Die Dunkelziffer ist riesig! Allein die Frauen und Männer, die als Kinder missbraucht wurden und sich erst 20 Jahre später an das erinnern, was ihnen angetan wurde, können nicht erfasst werden, da Vergewaltigung und sexueller Missbrauch aus irgendeinem Grund verjähren können. Deswegen und aufgrund des sozialen Stigmas, das allen Opfern sexueller Gewalt aufgedrückt wird, in irgendeiner Weise selbst Schuld zu sein, werden die meisten Fälle überhaupt nicht zur Anzeige gebracht und haben faktisch nicht stattgefunden. 
Laut einer Studie der sozialen Organisation Safeline wird jede vierte Frau und jeder sechste Mann in ihrem oder seinem Leben mindestens einmal sexuell missbraucht und oder vergewaltigt, was 8 Millionen Frauen und 5 Millionen Männern in Großbritannien entspricht. Dabei spielt weder das Alter, noch die soziale Klasse eine Rolle. Eine weitere Studie der US-Gesundheitsbehörde CDC, der Centers of Disease Control and Prevention in Atlanta belegt, dass in den USA genauso viele Vergewaltigungen begangen werden, wie im Kongo. Sexuellen Missbrauch findet man tatsächlich überall auf der Welt.


 

1Schaut euch hierzu gerne das Video von Darstellerin Alyson Stoner (Step Up, Dr. House) an: https://www.youtube.com/watch?v=cXOATB1v3jM

Traumata und lebenslanger Kampf

Ich habe das Gefühl, die meisten machen sich keinerlei Vorstellung davon, wie es ist, mit einem solchen Trauma zu leben. Welche Ängste man entwickelt. Wie schmutzig man sich fühlt. Und wie schwer es ist, das, was die Gesellschaft uns einredet, aus unseren Köpfen zu verscheuchen.

Aber ganz ehrlich: solange eine Frau, die gerade vergewaltigt wurde, bei der Polizei gefragt wird: „Was hatten Sie an?“ wird sich das auch nicht bessern.

Wir haben ein ganz klares strukturelles Problem! Mangelnder Respekt vor Frauen und mangelnder Respekt vor der körperlichen Selbstbestimmung jedes Einzelnen! 
Dieser Mangel an Respekt muss sich nicht immer in einer Vergewaltigung äußern, aber diese Tat ist der letzte Schritt in einer Reihe von Grenzübertritten. Natürlich konnte ein Ehemann vor dem Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe, der übrigens erst 1997 vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde mit seiner Frau machen, was er wollte. Sie hatte ja ganz offenkundig weniger Rechte als er und war praktisch sein Eigentum.
Horror fact: Gegen den Beschluss dieses Gesetzes stimmten unter anderem Horst Seehofer (ehem. Innenminister) und Friedrich Merz (aktuell. CDU-Vorsitzender). 
Aber Männer und Frauen allein auf dem Papier gleichzustellen, reicht eben nicht aus. Wie wir sehen, gibt es immer noch genug Anlass, um einen strukturellen Wandel herbeiführen zu müssen.

Jahrhunderte lang wurde Frauen eingetrichtert, sich den Männern unterzuordnen. Erst wurde dafür die Bibel als Grundlage genommen, später die körperliche Überlegenheit des Mannes und schließlich diverse pseudo-biologische und philosophische Begründungen (siehe bspw. Schopenhauer).

Und selbst heute, im 21. Jahrhundert sehen sich Frauen Belästigungen, unfairen Vergleichen und der „klassischen Rolle der Frau“ gegenüber, die wie ein Damoklesschwert über ihnen zu schweben scheint.


Wie es anfängt

Ich habe eineinhalb Jahre neben dem Studium gekellnert und sexuelle Belästigung gehört in diesem Job leider zum Alltag. 
Es fängt mit einem anzüglichen Spruch von einem (meist angetrunkenen) Gast an, der sich vor seinen Kumpels (meistens sind es Männerrunden) profilieren will. Es geht weiter mit dem Arm, der sich um meine Schulter legt und ich ertappe mich dabei, zu denken, dass das ja harmlos sei und nichts dabei wäre. Falsch! Kein Fremder sollte mich überhaupt so ungezwungen anfassen, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Zum einen war ich dort zum Arbeiten und nicht aus Vergnügen. Zum anderen stellt bereits das eine Überschreitung meiner persönlichen Grenze dar.

Je betrunkener die Männer, umso mutiger wurden sie. Mir wurde mehrfach an den Po gefasst und wenn ich mich wütend umdrehte, um dem Grabscher zu sagen, dass er seine Hände gefälligst bei sich zu behalten habe, kam ein überraschter Blick und die defensive Haltung, bei der man(n) die Hände hochhält. Diese Geste steht für das, was mir einer tatsächlich auch mal ins Gesicht sagte: „Stell dich doch nicht so an.“

Dass dieser Satz den Gipfel der Respektlosigkeit darstellt, muss ich nicht erklären. Komisch ist, dass solche Männerrunden immer mucksmäuschenstill wurden, sobald ich mich verbal wehrte. Anscheinend hatten sie keine Lust, rausgeworfen zu werden.

Die ganzen „Einladungen“, die ich von Männern bekam, die so alt waren wie mein Großvater, nach meiner Schicht zu ihnen nach Hause zu kommen, werde ich hier aus Rücksicht auf den Magen des Lesers nicht ausführen.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass auch männliche Kollegen sich gelegentlich gegen anzügliche Frauenrunden wehren mussten, nur eben sehr viel seltener. Während es bei den Männern vielleicht ein- bis zweimal im ganzen Jahr passiert, dass ihnen jemand zu nahe kommt, ist es bei den Frauen an der Tagesordnung.

Ein anderes Beispiel fand an Karneval 2019 statt.

Ich war auf einer Party mit zwei (männlichen) Freunden. Zum Verständnis muss ich erwähnen, dass ich eine Perücke trug, die immer wieder verrutschte.

Als wir gerade eine Tanzpause einlegten, kam von der anderen Seite des Raumes ein Mann in unserem Alter zu uns herüber. Er fragte einen meiner Begleiter, mit dem Finger auf mich zeigend: „Deine Freundin?“ Als mein Kumpel verneinte, griff dieser wildfremde Typ plötzlich in meine Perücke und rückte sie mir auf dem Kopf zurecht. Er grinste und meinte: „Die saß schief.“

Ich war in dem Moment so baff, dass ich gar nichts sagen konnte, was ich heute, wenn ich so darüber nachdenke, gerne nachholen würde. Dieser Kerl hatte das mögliche Risiko, mit einem potentiell besitzergreifenden Freund Ärger zu bekommen höher gewertet, als den Respekt MEINER Privatsphäre.

Was sich dieser Kerl wohl gedacht hat? „Ach, cool, die ist solo, also kann ich die ja anfassen.“?!

Der Umstand, dass viele Männer Frauen anscheinend als ihren Besitz ansehen ist dabei auch besorgniserregend. Damit werden Frauen auf das Niveau eines Gegenstands herabgesetzt, der maximal kaputt gehen kann.

Ich persönlich werde bei solchen Unverschämtheiten mittlerweile richtig wütend. Lange Jahre wusste ich nicht, wie ich mich wehren sollte, obwohl es mir immer furchtbar unangenehm war. Die Tatsache, dass ich nicht ohne Bedenken nachts durch einen Park gehen kann, ärgert mich unendlich. Ich musste bitter auflachen, als es im April zur Corona-Notbremse hieß: man darf von 22 bis 0 Uhr alleine spazieren oder joggen gehen. Ja, genau und wie viele Frauen werden das wohl tun?

Ein weiteres Problem sind die Ausreden.

Die beliebteste Ausrede ist nach wie vor: Alkohol, sowohl auf Opfer-, als auch auf Täterseite. Wir kennen sie alle: „Er wusste ja nicht, was er tut, er war halt besoffen“ oder „Sie war ja so betrunken, woher hätte ich wissen sollen, was sie wirklich will?“

Die Idee, vielleicht vorher zu fragen oder Sex und Alkohol in der Kombination einfach ganz bleiben zu lassen kommt scheinbar niemandem.

Stattdessen werden Frauen und Mädchen dazu angehalten, vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein, nur in Gruppen durch die Stadt zu gehen, im Club niemals ihr Getränk aus den Augen zu lassen. Hierzu ein Satz, den eine gute Freundin von mir dahingehend formuliert hat:
 

Es sollte nicht die Verantwortung der Opfer sein, zu verhindern, Opfer zu werden, sondern es sollte die Verantwortung der Gesellschaft sein, keine Täter zu produzieren.


 

Härtere Bestrafung und Bildung

Den einzigen Weg, den ich sehe, um diesen Missstand endlich zu verbessern sind härtere Strafen für Täter und mehr Bildung in Bezug auf Sexualität. Wieso wird in der Schule nicht darüber gesprochen, das gegenseitiges Einverständnis elementar für Sex ist? Wieso wird nicht biologisch erklärt, dass eine Frau, die sich währenddessen verkrampft, unglaubliche Schmerzen hat? Wieso benennen wir Vergewaltigung nicht als das, was es ist? Folter!

Per Definition ist Folter „die Misshandlung oder das Zufügen von körperlichen und seelischen Schmerzen“. Die seelischen Schmerzen sind auch etwas, das meiner Meinung nach zu wenig diskutiert wird. Viele Opfer verfallen in Depressionen, Angstzustände, entwickeln Essstörungen, werden suizidal. Ihr gesamtes Leben wird von diesem einen Moment geprägt und nachhaltig zerstört. Und das alles nur, weil irgendein Kerl der Ansicht war, dass Nein bei Frauen doch eigentlich Ja heißt. An dieser Stelle wäre es auch interessant herauszufinden, welcher Mann diese bekloppte Theorie aufgestellt hat.

Wenn man ein Umdenken in der Gesellschaft herbeiführen will, muss man die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Und aktuell ist es so, dass Frauen sich größtenteils, was ihren Schutz angeht, selbst überlassen werden. Spricht man dies an, erntet man womöglich von mancher Seite sogar Spott oder wird in die extrem feministische Stereotyp-Ecke geschoben. Wer es nicht selbst erlebt hat, scheint sich keinen Begriff davon zu machen, was eine solche Behandlung mit einem anstellt. Teilweise haben Frauen die gesellschaftlichen Stigmata dieses Themas so internalisiert, dass sie gar nicht sofort verstehen, dass ihnen ein Unrecht getan wurde. Viele fühlen sich hilflos und schlicht allein gelassen. Das muss sich ändern. Es muss mehr Anlaufstellen und Notrufnummern für solche Fälle geben (für Frauen, wie für Männer). Und hört auf, eure Kinder zu Stereotypen zu erziehen und erzieht sie individuell. Euer Sohn möchte mit Barbies spielen? - Lasst ihn. Eure Tochter spielt gern im Matsch und hasst Kleider? - Wunderbar.

Was aber das allerwichtigste ist, ist, was meine Mutter mir bereits mit 5 Jahren eindringlich bewusst machte: wenn dich irgendjemand, völlig egal wer, gegen deinen Willen anfasst oder dir zu nahe tritt, erzähl es!


 


 

Quellen:


http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__177.html


https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__211.html


 https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2019/InteraktiveKarten/04VergewaltigungSexNoetigung/04_VergewaltigungSexNoetigung_node.html


https://www.safeline.org.uk/


https://www.aerzteblatt.de/archiv/122748/Studie-zu-sexueller-Gewalt-in-den-USA-Ideologie-und-Wissenschaft


https://www.sueddeutsche.de/leben/sexuelle-selbstbestimmung-als-vergewaltigung-in-der-ehe-noch-straffrei-war-1.3572377


https://correctiv.org/faktencheck/politik/2018/11/14/diese-abgeordneten-stimmten-1997-gegen-die-strafbarkeit-von-vergewaltigung-in-der-ehe/


https://www.morgenpost.de/vermischtes/article207663671/Mildes-Urteil-nach-Vergewaltigung-sorgt-in-USA-fuer-Empoerung.html


https://www.wortbedeutung.info/Folter/

 

 

Warum ich die Schule gehasst, aber durchgezogen habe

Sobald ich mein Abiturzeugnis in der Hand hatte, sagte ich mir: „Das würde ich nicht noch einmal machen.“

Obwohl ich nicht nur einen, sondern zwei verhältnismäßig gute Schulabschlüsse hingelegt habe (Realschule & Abitur) und obwohl mir neue Dinge lernen bis heute Freude bereitet, kann ich rückblickend nicht behaupten, die Schule gemocht zu haben.

Zu zwanghaft war das System, zu durchtränkt mit Konkurrenzdenken. Ich erinnere mich gut daran, wie einem ab der 5. Klasse ein richtiger Horror vor dem Abitur gemacht wurde. Von Gleichaltrigen, von den Schülern in höheren Stufen, von den Eltern, von den Lehrern. Das Abitur wirkte wie die wichtigste Prüfung des gesamten Lebens, wie der Sprechende Hut bei Harry Potter, wie die Vorlesung der eigenen Sünden am Himmelstor. Dass man so unendlich viel lernen müsse, aber nicht einfach auswendig, sondern mit allen Anwendungsszenarien, inklusive Zukunftsausblick und am besten noch eigener Bewertung des Themas auf wissenschaftlicher Ebene. -

Und was war es? Drei ellenlange Klausuren und eine mündliche Prüfung, die man schon quasi verbockt hatte, wenn man Angst hatte, vor anderen zu sprechen. Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass es durchaus machbar war, aber im Verhältnis nicht annähernd so schrecklich wichtig oder schwierig, wie man uns all die Jahre zuvor Glauben gemacht hatte

Und im Vergleich zu anderen Prüfungen im späteren Leben (Uniklausuren, Vorstellungsgespräche, Steuererklärung, mit Geld haushalten, etc.) war es galant gesagt ein Witz. 

Ich habe durch meine im Durchschnitt außergewöhnliche Schullaufbahn einen guten Einblick in das System erhalten und konnte sowohl den Unterricht, als auch die Schüler direkt vergleichen.

Mein erster Tag am Gymnasium ist mir auch deshalb so lebendig in Erinnerung, weil ich morgens um kurz vor 8 vor mit vor Nervosität leicht weichen Knien das Schulgebäude betrat, nahm ich doch an, alle Schüler hier wären schlauer als ich, die es mit bloßer Willenskraft überhaupt hier her geschafft hatte und nicht weil ich hochbegabt oder besonders schlau war. Nach der ersten Stunde war mir klar: die kochen auch nur mit Wasser, einige sogar mit sehr abgestandenem, von Kalk durchzogenem Wasser. 

In diesem Bericht möchte ich meine persönlichen Eindrücke aus der Erinnerung heraus schildern und gleichzeitig einen Appell im Namen aller Kinder, die in diesem System untergehen an die Gesellschaft und die Politik richten. Das deutsche Bildungssystem ist nicht dazu da, um Chancengleichheit zu schaffen, oder gar „bildungsschwache“ Kinder zu „bildungsstarken“ Kindern zu machen, im Gegenteil. Meiner Erfahrung nach ist das System dazu geschaffen, dich um jeden Preis in der Sparte zu halten, in der du dich zum Zeitpunkt deiner Einschulung befindest, wenn nötig auch mit (psychischer) Gewalt. 


Kindergarten

Moment, werden einige jetzt denken. Ich dachte, Sie wollen über die Schule schreiben? - Richtig. Allerdings geht dem bekannterweise der Kindergarten voraus, welcher nicht nur zur Betreuung der Kinder gedacht ist, sondern auch der Vergesellschaftung mit Gleichaltrigen und im Zuge dessen dem Erlernen von Sozialverhalten und Ausbildung von diversen kognitiven Fähigkeiten dient. Es ist also eine Art Vorbereitung auf die Schule. Zumindest in der Theorie.

Ich ging in einen Kindergarten in Bonn, obwohl wir in Bad Neuenahr wohnten. Der Grund: meine Mutter arbeitet in Bonn. Und da es ja auch in einem eigentlich für Kinder sicheren Umfeld immer mal zu Zwischenfällen kommen kann (und kam), war es meiner Mutter lieber, in unmittelbarer Nähe zu sein, nur für den Fall. So sehr sie damit auch Recht behielt, umso schwieriger war es für mich, tiefere Freundschaften mit den anderen Kindern zu schließen, da man eben nicht einfach mal am Wochenende zusammen auf den Spielplatz in der Rheinaue gehen konnte, sondern sich nur unter der Woche von 8 bis 15 Uhr sah. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb die Gleichaltrigen in meiner Gruppe der Meinung waren, mich systematisch immer wieder ausschließen zu müssen. 

Hinzu kam der Umstand, dass ich mit 4 Jahren das einzige Kind im gesamten Haus war, das wusste, was das Wort „geschieden“ bedeutet. Ob es der Ausgrenzung zu verdanken war, oder ob ich von Natur aus einfach für alles etwas länger brauchen sollte, weiß ich nicht; klar war nur, ich konnte bis zu meiner Einschulung nicht einmal mit einer Schere umgehen. Generell habe ich basteln seit meinem 4. Lebensjahr gehasst. Man musste die Hände ruhig halten, auch mal länger als drei Sekunden etwas aufeinander pressen, damit der Klebstoff hielt – das war mir schon damals zu langwierig. Ich hatte einfach keine Geduld. Die habe ich heute noch nicht erlernt. Aber in diesem Kindergarten wurde man zum Glück zu nichts gezwungen. Hieß, wenn ich keine Lust mehr hatte, durfte ich vom Tisch aufstehen und etwas anderes machen. Dabei war ich mir stets selbst überlassen, was mich damals nicht störte. Heute denke ich, war das der Anfang meiner Selbstisolation. Nicht, dass ich nicht auch zumindest ein paar Freunde hatte, aber wirklich geöffnet hab ich mich nie. Das Umfeld schien einfach nie sicher dafür zu sein. Ich behielt also schon sehr früh meine Gedanken für mich, was mir in der Grundschule die ersten Nachteile bringen sollte. 


Erste und zweite Klasse

Die ersten beiden Schuljahre liefen normal für mich ab. Ich hatte Schwierigkeiten beim ordentlichen Schreiben, denn auch hier war ich zu ungeduldig. Ich wusste zwar, welchen Buchstaben ich schreiben wollte, aber die Feinmotorik ist bei Kindern nun mal noch nicht so ausgeprägt wie bei Erwachsenen, weshalb sie beispielsweise beim Schreiben, gerade am Anfang noch etwas langsamer machen müssen. Wie gesagt, ich war nie besonders geduldig. Und weshalb ich auf Linien schreiben sollte, leuchtete mir schon dreimal nicht ein. Das dauerte alles zu lange und ich wollte doch fertig werden. Beim Lesen war ich dagegen sehr langsam. Bis zu meinem 12. Lebensjahr las ich nur innerhalb der Schule und auch nicht gerne, erst recht nicht laut vor anderen. Aber welches Kind liest und schreibt perfekt in der zweiten Klasse? Mit meinen Mitschülern kam ich mal besser, mal schlechter zurecht, auch hier, bis dahin nichts Ungewöhnliches. Doch schon in der zweiten Klasse zeigte sich meine Abneigung gegen die Mathematik. Ich verstand nicht, weshalb ich Dinge ausrechnen sollte und empfand die Aufgaben (besonders Textaufgaben) als pure Schikane. Dies verschlechterte sich in den beiden Folgejahren rapide. 

 

Dritte und vierte Klasse

Ab da ging alles bergab. Es fing mit unserer neuen Klassenlehrerin an. Die Dame war bereits Mitte 50 und zusätzlich die Direktorin der Schule. Ihr eilte ein gewisser Ruf voraus, der übliche Hausdrache. Dass die anderen Kinder nicht übertrieben hatten, merkte ich bald. 

Die Direktorin war der Ansicht, dass man Kinder triezen müsse, damit sie sich in der Schule anstrengten. Bei ihr bildeten sich schnell die Lieblinge heraus, Schüler, die Zusammenhänge auf Anhieb verstanden und bei jeder Frage den Arm derart weit nach vorne streckten, dass sie halb auf ihrem Tisch lagen. 

Dann gab es diejenigen, die stiller waren, dafür aber gute Zensuren schrieben. 

Und das Schlusslicht bildete ich, zusammen mit zwei anderen Schülern. Wir waren leise und mit den Noten klappte es mehr schlecht als recht. Woran es bei den anderen beiden lag, kann ich nicht sagen. Ich für meinen Teil war von Natur aus ein schüchternes Kind und selbst wenn ich die Antwort wusste, traute ich mich nicht immer, mich zu melden. 

Die Direktorin nahm aber an, so denke ich heute, dass ich mich nicht meldete, weil ich es schlicht nie wusste. Von einer guten Lehrerin, mit solch langjähriger Erfahrung hätte man nun erwarten können, dass sie die Stilleren trotzdem hin und wieder dran nimmt, sie aber nicht unter Druck setzt, sondern sie ermutigt, das auszusprechen, was sie denken. Diese Lehrerin tat leider das Gegenteil.

Sobald jemand etwas Falsches sagte, machte sie einen dafür verbal fertig. Sie gab uns Kindern das Gefühl, dumm zu sein. Auch aus diesem Grund entschied ich mich dafür, meistens den Mund zu halten, aus Angst von ihr herunter gebuttert zu werden. 

Und nur mal ein Beispiel, um zu zeigen, dass ich nicht empfindlich war oder nachträglich übertreibe: Einer der stilleren Jungs hatte einmal seine Hausaufgaben vergessen. Daraufhin brach die Direktorin in eine wahre Tirade aus, wie unzuverlässig er sei, was das für seine Zukunft bedeuten würde und was denn so schwer daran sei, sich seine Hausaufgaben zu notieren. Selbst als der Schüler in Tränen ausbrach, hörte sie nicht auf. Irgendwann packte dieser Schüler dann sein Mäppchen in seinen Ranzen, stand auf und ging. Hinzu kam, dass er zu diesem Zeitpunkt auch noch einen gebrochenen Fuß hatte und auf Krücken lief. Sie rannte ihm daraufhin entsetzt hinterher und war auf ihren Stöckelschuhen langsamer als er auf Krücken und das vom ersten Stock abwärts.

Aus heutiger Sicht kann ich nur sagen, dass diese Frau grausam zu Kindern und für den Lehrberuf, vor allem in einer Grundschule absolut ungeeignet war. Sie neigte ferner dazu, relativ schnell die Stimme zu erheben, was ich bis heute nicht leiden kann. 

Ich hatte Angst vor ihr. In diesen zwei Jahren kam sie regelmäßig in meinen Alpträumen vor und jeden Morgen, wenn der Bus um die Ecke bog und das Schulgebäude in Sicht kam, bekam ich Bauchschmerzen. Von meiner Mutter erfuhr ich, dass einige Eltern, auch aus anderen Klassen sich bereits mehrfach über sie beschwert hatten, aber sie einfach nicht weg zu bekommen war. Zu lange regierte sie die Schule bereits und selbst der Schulbeirat hatte nicht dem Mumm, sich mit ihr anzulegen. Sie hatte also völlig freie Hand, nicht nur bei ihrem Unterricht, sondern über die ganze Schule. 

Unabhängig davon war ich eine klassische Spätentwicklerin – ich brauchte eben für alles etwas länger. Doch schon in der dritten Klasse schien keine Zeit für Kinder wie mich vorhanden zu sein. So sehr ich mich auch anstrengte, es reichte eben nicht, mir etwas nur einmal zu erklären, aber noch einmal nachzufragen, wäre mir bei der Direktorin niemals eingefallen und bei anderen Lehrerinnen wirkte deren Reaktion oft so, als kämen ihnen Nachfragen ungelegen. Irgendwann traute ich mich schließlich gar nicht mehr, zu sprechen, was das Problem nicht nur größer werden ließ, sondern es auch nach Hause auslagerte. Wenn man es im Unterricht nicht versteht und auch nicht nachfragen kann, wundern sich die Eltern daheim, wieso man die Hausaufgaben nicht auf die Kette bekommt. Und so sehr man mir zu Hause auch half, alles wussten meine Eltern auch nicht, abgesehen davon, dass besonders die Direktorin dazu neigte, uns eine Unmenge an Stoff zum Lernen zu geben (die Mappe über das alte Ägypten war 6cm dick). 

Also fassen wir zusammen: Schülerin mit ohnehin nicht allzu viel Selbstbewusstsein, die langsam lernt und Angst vor ihrer Klassenlehrerin hat. Ergibt: schulisches Desaster. Ich weiß nicht, wie oft ich daheim und auch in der Schule wegen meiner Noten geweint habe und ernsthaft glaubte, mein Leben sei für immer ruiniert. Nie wieder lastete solch ein gewaltiger Druck auf mir, wie in der Grundschule. Weder im Studium, noch im heutigen Berufsleben.

Der ganze Stress und der Psychoterror der Direktorin führten dazu, dass ich mit 8 Jahren bereits regelmäßig an schweren Migräneattacken litt, die mich bis heute für einen kompletten Tag umhauen. Heute sind sie zum Glück seltener geworden; damals hatte ich zwei- bis dreimal im Monat damit zu tun, heute vielleicht zweimal im ganzen Jahr. 

Nimmt man das alles zusammen, erkennt man sehr gut, wie manche Kinder bereits sehr früh von ihren Lehrern schlicht aussortiert werden, was ich ungeheuerlich finde. Hätte ich ab der 5. Klasse nicht eine sehr verständnisvolle und nette Lehrerin gehabt, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre. Denn es ist, wie der Rapper Bushido in einem seiner Texte sagt:


 

„Denn wenn jeder dir erzählt dass aus dir nichts wird
Kann passieren dass aus dir nichts wird


 


Realschule plus

Ich ging also auf die Realschule Plus. Das war zu dem Zeitpunkt noch etwas relativ Neues und daher fühlte ich mich wie eine Art Versuchskaninchen. Auch die Trennung von den anderen Kindern hatte an meinem Selbstbewusstsein genagt: ich war also schlechter als sie. Ich hatte die schlechteste, mir zu dem Zeitpunkt bekannte Schulempfehlung (Hauptschule) bekommen und jedes Jahr sollte es noch schwerer werden, wo ich doch nur mit Mühe und Not die 4. Klasse hinter mich gebracht hatte; mein Leben war in meiner Vorstellung praktisch vorbei. Mit 12 Jahren.

Nur, um mal deutlich zu machen, wie ich mich fühlte: ich sollte auf eine viel größere Schule, mit viel älteren Schülern und ganz anderen Lehrern. Und ich war zu dem Zeitpunkt fest davon überzeugt, dumm zu sein. Es war egal, wie sehr ich mich anstrengte, es würde nichts bringen. Also aus welchem Grund sollte ich es denn überhaupt versuchen? Weshalb mich anstrengen, wenn es am Ende keinen Unterschied machen würde?

Und dann wurde es plötzlich mit einem Schlag besser. Ich bekam eine neue Klassenlehrerin, 28 Jahre jung, sehr nett und sehr einfühlsam. Sie merkte gleich, wie verängstigt ich war und ging mit einer Engelsgeduld auf mich ein. Von meinen anderen Lehrern war auch keiner wirklich unfreundlich oder unfair. Ich lernte also mit etwas mehr Optimismus, obwohl ich mich mündlich immer noch nicht beteiligte und schrieb meine ersten Tests. Bei der Rückgabe dann die Überraschung: eine Eins. Und nicht nur das, auch noch Klassenbeste. Ich fragte die Lehrerin tatsächlich, ob sie sicher sei, dass es auch wirklich meine Arbeit sei. (Ich hatte nämlich dahingehend in der Grundschule auch schon etwas Niederschmetterndes erlebt. Die Direktorin gab mir, wie ich heute glaube, absichtlich, die Arbeit einer Mitschülerin mit der Note Zwei und ich freute mich anfangs bis ich sah, dass es nicht meine Schrift war. Ich gab der anderen Schülerin ihre Arbeit und machte die Direktorin auf den Fehler aufmerksam, sie tat ganz überrascht und führte mich in den Nebenraum. Dort gab sie mir dann meine echte Arbeit, eine Fünf.)

Ich kam an dem Tag freudestrahlend nach Hause, fest in dem Glauben, einfach einmal Glück gehabt zu haben. Diesen Glauben wurde ich bis zur 9. Klasse nicht los, obwohl Bestnoten bis dahin längst normal für mich waren. Zu tief saß die Angst, doch dumm zu sein und einfach nur Glück zu haben oder gut im Auswendiglernen zu sein

Nun war ich mit einigen meiner alten Klassenkameraden aus der Grundschule in eine Klasse gekommen, allerdings war ich mit keinem von ihnen befreundet. Meine Freunde aus der Grundschule waren alle auf verschiedene Gymnasien verschwunden. Als die ersten guten Noten eintrudelten, war auf sozialer Ebene noch alles normal. 
Das änderte sich ab der 7. Klasse. Denn zu dem Zeitpunkt hatte ich auch gelernt, dass ich mich melden konnte, wenn ich etwas wusste und das kam immer häufiger vor. Streber genießen in der Schule irgendwie nie Ansehen, sondern sind „uncool“ und im schlimmsten Fall „Schleimer und Besserwisser“. Interessant an unserer Klasse war der Umstand, dass wir zwei Streber waren, ein Junge, der sehr still war, aber in jedem Fach Einsen schrieb und ich, die sich bald dauerhaft meldete, aber in Mathe eine Schwäche hatte. Mathe sollte das einzige Fach werden, das ich nicht konnte und darauf stürzten sich meine Mitschüler bald, aber dazu später mehr. Der Unterschied zwischen dem Jungen, der Bestnoten schrieb und mir war also, dass ich mich meldete und er sich nicht. Anscheinend war das genug, um meine Mitschüler dazu zu bringen, mich zu hassen. Da hatte ich endlich gute Noten und wurde nun auf der sozialen Ebene abgehängt. Wenn ich mich meldete, weil ich die Antwort wusste, waren verdrehte Augen an der Tagesordnung, wenn gerade kein Lehrer im Raum war, musste ich mir dumme Sprüche anhören. Meine Intelligenz war kein Grund für Respekt oder gar Bewunderung. Auch wenn einige meiner Gleichaltrigen nur zu gerne Sonntag Abend bei mir daheim anriefen, um nach den Hausaufgaben für den nächsten Tag zu fragen oder mich am nächsten Morgen quasi anflehten, sie abschreiben zu lassen, so war ich sonst der sprichwörtliche Fußabtreter. Mich konnte man fragen, wenn man nicht weiter wusste, aber behandelt wurde ich wie Dreck. Über mich wurde gelästert, es wurden Lügen über mich erfunden und ich wurde systematisch ausgeschlossen. Damit war ich zwar nicht die Einzige, aber ich legte mir bald ein dickes Fell zu. Ich hatte sehr schnell begriffen, dass ich mich nicht grundlegend verändern würde, nur um dazu zu gehören und meine guten Noten waren mir schlicht wichtiger, als die falsche Anerkennung irgendwelcher Idioten, die „cool“ waren, weil sie schwänzten oder das neuste Handy hatten. 

Ich stellte also meinen akademischen Erfolg über mein soziales Leben, was zur Folge hatte, dass ich oft sehr allein war. Allerdings denke ich heute, dass ich, nach den negativen Erfahrungen zu Beginn meiner Schullaufbahn nicht freiwillig so versessen auf gute Noten war. Nachdem mein akademischer Tiefflug vorbei war, versprach ich mir selbst, nie wieder so tief zu fallen, denn ich wollte mich nicht wie eine Versagerin fühlen. Das System hatte mir allem Anschein nach eine zweite Chance gegeben und diese würde ich nicht vermasseln. Lernen wurde zu meinem Lebensinhalt. Parallel pflegte ich einmal in der Woche irgendeine sportliche Aktivität. Ich hatte mich mit 13 Jahren so sehr in das System einfügen lassen, dass ich glaubte, jede schlechte Note würde mich zurück in die furchtbare Lage aus der Grundschule versetzen. Wenn ich nicht lernte und mein Pensum noch nicht voll war, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Jede Note, die schlechter war als Zwei stürzte mich in tiefe Selbstzweifel. War ich doch dumm? Hatte die Direktorin doch recht gehabt und was sollte aus meinem Leben werden? Heute denke ich, dass sich in dieser Zeit mein z.T. heute noch vorhandenes Hochstapler-Syndrom ausbildete. 

Aufgrund des anhaltenden Mobbings durch meine Mitschüler gab ich bald den Versuch auf, in der Schule irgendeine Form von sozialer Beziehung aufzubauen. Stattdessen verstand ich mich immer besser mit meinen Lehrern, was die Situation mit dem Mobbing nicht besser machte. Ich war heilfroh, als ich endlich meinen Realschulabschluss hatte und als Jahrgangsbeste von der Schule ging. 


Gymnasium

Die mir vorstellbar größte Hürde. Zumindest zum Zeitpunkt meines Realschulabschlusses. Kurz vor unserem Abschluss hatten wir nämlich Infoveranstaltungen, welche Möglichkeiten wir so insgesamt nach unserem Abschluss hatten. Die meisten würden Ausbildungen machen und auf die Berufsschule gehen. Ich hatte seit der 7. Klasse den Anspruch an mich selbst, es auf dem Gymnasium zumindest zu versuchen. Auch wenn die Vorstellung der Oberstufe auf der Infoveranstaltung durch den damaligen Oberstufenleiter alles andere als motivierend war. Er präsentierte uns auf einer PowerPoint etwa 20 Minuten lang Gründe, weshalb wir es gar nicht erst versuchen sollten, da unsere Chancen praktisch gleich null seien. Und um ehrlich zu sein, wirkte es. Ich bekam Angst und ließ mich verunsichern. Allerdings gab ich das niemandem gegenüber zu, schon gar nicht meinen Eltern. Ich wollte es trotzdem versuchen.

Und trotzdem schleppte meine Mutter mich zum Tag der offenen Tür der Berufsschule, denn sie hätte es gern gesehen, wenn ich Sekretärin geworden wäre. Ein sicherer Job mit angemessener Bezahlung, so dachte sie. Ich verstand zwar ihren Wunsch bzw. ihre Angst, ich würde nichts Anständiges lernen und nicht genug verdienen, aber ich stellte mir die Tätigkeit der Sekretärin als anstrengend und eintönig vor. Zum anderen würden viele meiner Peiniger auf diese Berufsschule gehen und ich wäre lieber aus einem Fenster des 10. Stocks gesprungen, als mit diesen Leuten auch nur noch eine Minute länger als notwendig zu verbringen. Ich setzte mich also durch und kam aufs Gymnasium, zusammen mit drei anderen Mitschülern. Aus meiner Klasse war es der männliche Streber, die anderen beiden waren aus Parallelklassen. Hier möchte ich die systematische Andersbehandlung (von der Schule Aufbaukurse genannt) ansprechen.

Uns wurde vom ersten Tag an vermittelt, dass wir noch immer Realschüler seien und damit automatisch akademische Lücken hätten. Daher müssten wir sowohl in Englisch als auch in Mathe in Aufbaukurse gehen. Sobald wir eine Klausur in diesen Fächern mit über 10 Punkten bestanden hätten, dürften wir diese verlassen. Ungeachtet dessen, wie wir bei unseren Abschlüssen in den beiden Fächern abgeschnitten hatten, wurden wir also zusätzlich zum normalen Unterricht, der für uns alle (auch die Gymnasiasten) eine Umstellung werden sollte, denn keiner von uns hatte zuvor Leistungskurse gehabt, auch noch in Nachhilfekurse gesteckt. Da ich in Englisch eine Eins hatte und zu dem Zeitpunkt bereits fließend sprach, empfand ich diesen Kurs bei einer Lehrerin, die uns 90 Minuten lang Arbeitsblätter mit Synonymen bearbeiten ließ, anstatt mit uns auf Englisch zu sprechen, als eine Beleidigung. 

Der Aufbaukurs in Mathe half mir tatsächlich, aber wie schon erwähnt, war ich immer schon grottenschlecht in diesem Fach und brauchte dort gefühlt ewig, um etwas zu verstehen. Trotzdem machte ich ab der 12. Klasse keine Mathehausaufgaben mehr. Ich verstand es sowieso nicht und gab nach mehreren Stunden der Verzweiflung am heimatlichen Schreibtisch schlichtweg auf. Algebra war mir schon zu viel gewesen, da brauchte man mir mit Vektoren und Kurvendiskussionen gar nicht erst kommen. Ich sah schlicht keinen Sinn darin, wofür ich diese Inhalte später mal brauchen sollte. Denn, dass ich nichts mit Mathe studieren würde war ohnehin klar. 

Doch zurück zur Ungleichbehandlung der Realschüler.

Nach den ersten vier Wochen gab es eine Lehrerkonferenz, die uns zum Gegenstand hatte. Ja, wir wurden vier Wochen lang besonders von unseren Lehrern beobachtet und anschließend wurde hinter verschlossener Tür über uns diskutiert. Wir wurden nicht gefragt, ob und wie wir uns eingelebt hatten, wir wurden nicht wie alle anderen behandelt. Wir wurden systematisch getrennt behandelt, wieder unabhängig davon, wie wir uns vorher in der Schule behauptet hatten. Und kein Lehrer kann mir erzählen, dass wir in dieser Konferenz nicht auch bewertet wurden. Schüler werden ohnehin bewertet und da wir ja aus anderen Verhältnissen kamen, wurden wir doppelt bewertet. 

Auch im Unterricht machte sich diese Hervorhebung bemerkbar. Ein Beispiel aus dem Politikunterricht: Es ging um die Theorie, oder besser gesagt die gängige Praxis, dass Kinder von Akademikern eher auch einen akademischen Weg auf dem Arbeitsmarkt einschlagen würden, als Kinder von Nicht-Akademikern. Allerdings sei dies laut diesem Lehrer auf die mangelnde Kompetenz und nicht etwa das dünnere Portemonnaie der Eltern zurückzuführen.

Mich regte diese Theorie furchtbar auf und ich meldete mich mit meiner persönlichen Geschichte, um diesem Lehrer schlicht das Gegenteil zu beweisen. Ich erzählte also, dass mein Vater nicht bloß Monteur, sondern obendrein auch noch Einwanderer war, dass meine Mutter lediglich einen Hauptschulabschluss hatte und ich nun trotzdem hier (auf dem Gymnasium) sei. 

Die Reaktion des Lehrers war absolutes Gold wert: In seinem Gesicht stand pures Erstaunen und er fragte nochmals nach, ob ich direkt nach dem Realschulabschluss und ohne Aufnahmetest (!) hierher gekommen sei. Als ich bejahte, schloss er daraus, dass mein Zeugnis ja entsprechend gut gewesen sein müsse und an dem Punkt wurde es mir wieder unangenehm. Ich hatte ja nicht in mein eigenes Horn tuten wollen, sondern ihm lediglich den lebenden Beweis dafür liefern, dass nicht alle Kinder aus nicht akademischem Haushalt fehlende Kompetenzen hatten, sondern ihnen der Weg auf andere Weise schon sehr früh verbaut wurde. 

Trotz dieser Ungleichbehandlung wurde es auf dem Gymnasium sozial endlich sehr viel besser für mich. Ich lernte neue Leute kennen und formte meine erste Clique (aus Gymnasiasten und ehemaligen Realschülern). Mit dreien von ihnen bin ich noch heute befreundet und ich könnte nicht dankbarer für diesen Umstand sein. Allerdings gab es auch wieder Mobber. Zwar sehr viel harmloser als auf der Realschule, aber trotzdem nervig ohne Ende. 

Auch hier bemühte ich mich wieder, nach allen Regeln der Kunst durch Leistung herauszustechen, zunächst. Im Laufe der Oberstufe merkte ich dann aber, beispielsweise in Mathe, dass meine Mühe umsonst sein würde. Ich versuchte erstmals, lernen und soziale Kontakte unter einen Hut zu bekommen, was schwieriger war, als erwartet. Etwas mit meinen Freunden zu unternehmen, machte schlicht mehr Spaß, als zu lernen, allerdings durfte ich dies ja nicht vernachlässigen.

Zusammenfassend kann ich heute sagen, dass ich mein Kind- und Teenagersein für die Schule geopfert habe. Lange ging ich davon aus, es sei meine Entscheidung gewesen. Heute weiß ich, dass ich durch die frühen negativen Erfahrungen und den damit einhergehenden Glauben, dass Noten alles seien von dem Schulsystem getrieben worden war. Hinzu kommt, dass wir in der all der Zeit nie gesondert gefördert wurden. Es ging nicht darum, dass jede einzelne Schülerin etwas findet, dass sie oder er gut kann, das ihm oder ihr womöglich sogar Spaß bereitete. Es ging lediglich darum, jedes Fach zu beherrschen, egal wie. Und sobald man die Klausur oder den Test hinter sich hatte, konnte man den gelernten Stoff auch gerne wieder vergessen. 
Meiner Meinung nach führt ein solches System dazu, dass die jungen Erwachsenen am Ende der Schulzeit weder wissen, wer sie sind, noch was sie mit ihrem Leben eigentlich anfangen wollen. Man wird mitten ins Lebens geworfen und das vollkommen unvorbereitet. Das Schulsystem spuckt einen aus, nur damit man in einem neuen System landen kann, das ähnliche Abläufe aufweist, aber mit anderen Mitteln funktioniert; der Arbeitsmarkt. Dort wird dann jegliche Kreativität und jeglicher Ideenreichtum im Keim erstickt, denn man beginnt die Ausbildung nicht, um sich auszuprobieren, sondern, um sie bis zum Ende durchzuziehen. Junge Erwachsene, die eine Ausbildung abbrechen, werden von der Gesellschaft immer noch kritisch beäugt und von vielen als „Versager“ abgestempelt. Schließlich hatte man ja drei oder vier Praktika in der Schulzeit, um sich zu überlegen, was man später werden wolle. Zum Thema Praktika:

Ich absolvierte meine Praktika im Tierheim, im Krankenhaus, in einem Blumenladen. Das Fazit war jedes Mal dasselbe: will ich nicht machen. 

Nicht, dass das Aussortieren von Berufen nicht auch wichtig wäre, aber meiner Meinung nach sind zweiwöchige Praktika etwas wenig, um Schülerinnen einen Einblick ins Berufsleben zu ermöglichen.

Unser Schulsystem ist längst nicht mehr zeitgemäß und bedarf einer Generalüberholung. Vor allem beim Thema Chancengleichheit besteht dringender Handlungsbedarf. Die soziale Situation der Eltern darf keine Rolle spielen und die Kinder müssten individuell gefördert werden, je nach Begabungen und Interessen. 

Ganz zu schweigen davon, dass die Trennung der Kinder auf Haupt-, Realschule und Gymnasium viel zu früh erfolgt. Man hatte gerade mal vier Jahre Zeit, um überhaupt zu verstehen, wie das System funktioniert, was man zu tun hat, um in ihm zu bestehen und was das für das eigene Lebens bedeutet. Die eigene Identität, die sich im Laufe dieser und der folgenden Jahre eigentlich bilden soll, wird unterdrückt, denn für Individualismus ist im deutschen Schulsystem kein Platz. Was entsteht, wenn man Kinder so behandelt und in eine vorgefertigte Form presst? - Einsen und Nullen in einem System, das sich nicht für die Menschen, sondern nur für deren Beitrag zum Arbeitsmarkt interessiert. 
 

 

 

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